Hören bedeutet, sich auf die inneren Bewegungen, auf die feineren, den übrigen Sinnen zunächst verborgenen Äußerungen eines anderen Wesens einzulassen. Ob es sich um Naturlaute, um Musik oder um Sprache handelt: wer hört, macht sich damit zu einer Art Resonanzboden des jeweils klingenden, tönenden, sprechenden Wesens und vermag so mit ihm mitzuschwingen, ja mitzuleben und mitzuatmen.
Hören bedeutet dann im weiteren, dieses unvoreingenommene Mitgehen schrittweise zu steigern bis hin zu einem „kongenialen“ inneren Mit-Erschaffen der im Klingenden veranlagten Gesamtgestalt. Und diese Fähigkeit drängt irgendwann selbst nach außen und „schwimmt sich frei“: der hörende Mensch erprobt seine Gestaltungsfähigkeit im eigenen schöpferischen Hervorbringen hörbarer Zusammenhänge.
Hören kann sich schließlich in einer Art Umstülpung den übrigen Sinnen, den Künsten, ja dem ganzen Leben zur Verfügung stellen, indem es sich als Fähigkeit auch dem Nicht-Akustischen weit öffnet. Wenn Farbe und Licht, wenn Architektur und Körperbewegung, ja wenn selbst Gedanken und Gesinnungen als klingend-tönend erlebt – und mehr und mehr aus musikalischem Atem heraus geführt werden, dann ist dies der Ausdruck einer starken Anwesenheit des Menschen in der Welt.
Thomas Reuter, 2018